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Metamorphosen von Gestein

Heidrun Jecht
Kuratorin des Badischen Landesmuseums, Karlsruhe

Bei ihrer Wandinstallation „1230° – Die Schau der Dinge“ verfolgt Hannah Zenger einen klar durchdachten, konzeptuell-analytischen Ansatz, der die Arbeit an der Schnittstelle zwischen zeitgenössischem keramischen Schaffen und freier Kunst positioniert. Die formale ins Auge stechende Ästhetik der gleichsam mit der Wand verschmelzenden Arbeit mit ihren subtilen Farbharmonien und strenger Rasterung fußt auf einem komplexen künstlerischen Konzept, das Charakteristika, Erscheinungsformen und Veränderlichkeit von Materialität erforscht, dabei Bekanntes transformiert und in neue Aggregatszustände überführt. Denn Farbgeber für die Porzellantäfelchen ist nicht – wie der flüchtige Blick Glauben machen möchte – eine Glasur, sondern zu feinem Pulver verriebenes Gestein, mit dem die ungebrannte Porzellanmasse eingefärbt wird. Die graduellen Farbabstufungen entstehen durch das variierende, aber dennoch genau berechnete Mischverhältnis von Porzellanmasse und Steinpulver, wobei Zenger jede Gesteinsart in fünf verschiedenen Graden von hell nach dunkel in die Gesamtkomposition integriert. Die endgültige Farbwirkung konnte Zenger dabei nicht vorbestimmen aufgrund der nicht verbindlich kalkulierbaren Farbveränderung des gemahlenen Steinpulvers während des Brennvorgangs.

Die in „1230°“ verarbeiteten Steine stammen von verschiedenen Orten auf der Welt, die für die Künstlerin persönlich von Wichtigkeit sind – unter anderem wegen der dort vorhandenen Architektur. So enthält die Installation beispielsweise die Gesteinsart Gneis aus Vals in der Schweiz, das durch die legendäre Thermenarchitektur von Peter Zumthor internationale Bekanntheit erlangte. Im übertragenen Sinne wird „Die Schau der Dinge“ mit den im Porzellan verborgenen Steinen von unterschiedlichen geografischen Fundorten zu einer Art Landkarte und damit zu einem außergewöhnlichen Abbild der Erde. Daneben spielt „1230°“ auf subtile Art mit der Wahrnehmung und Vorerwartung des Betrachters: Denn die Materialien Porzellan und insbesondere Gestein stehen in erster Linie für Begriffe wie Härte und Festigkeit. Zengers Arbeit lässt jedoch auf den ersten Blick genau das Gegenteil assoziieren, nämlich Leichtigkeit und papierhafte Zartheit. Die direkt auf die Wand befestigten flachen Porzellantäfelchen erscheinen nicht starr und fest fixiert, sondern schweben und  „flirren“ geradezu vor den Augen des Betrachters – bedingt durch die beim Trocknen und Brennen der Porzellanmasse entstehende, unregelmäßig gewölbte Oberfläche. Die Arbeit erscheint bewegt und lebendig, sie „atmet“ geradezu. Insbesondere die feinen unterschwelligen Unregelmäßigkeiten jeder einzelnen Platte verleihen „1230°“ den besonderen Reiz, sie ermöglichen ein lebendiges Spiel von Licht und Schatten und schaffen einen Gegenpol zu der klar definierten strengen Rasterung.

„Die Schau der Dinge“ ist Ergebnis einer überraschenden Metamorphose von schwerem, solidem Gestein hin zu einer samtenen, zart-zerbrechlichen Materialität. Die dem künstlerischen Konzept vom Grundansatz innewohnende, von codierten Regelmäßigkeiten bestimmte formale Strenge steht der Aspekt der Unplanbarkeit, des nicht von Menschenhand lenkbaren Moments gegenüber. Zenger lässt den Gesetzmäßigkeiten der Natur und den daraus resultierenden Prozessverläufen ihre Freiheit. Sie schafft hierfür das Grundgerüst und setzt den Schöpfungsprozess in Gang, überlässt diesen jedoch in letzter Instanz der Natur und erweist ihr somit Reverenz ob deren unermesslichen schöpferischen Potentials.