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Frischzelle_28: Hannah Zenger

Arne Schmidt
Kurator
Kunstmuseum Stuttgart

Hannah Zenger öffnet mit ihrer Kunst den Blick für ein Material, das allgegenwärtig ist und doch meist unbeachtet bleibt. Die Künstlerin nutzt selbst gesammelte Erd- und Gesteinsproben als Ausgangsmaterial, um ausgehend von wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden ihre plastischen Werke herzustellen. Erde als Material ist so vielfältig, dass sie sich einer genauen Definition entzieht. Vom feinsten Sand über die tiefbraunen Böden fruchtbarer Felder bis hin zu sich himmelhoch auftürmenden Felsformationen umfasst der Begriff den festen Überzug unseres Planeten. Während ihres Studiums der Architektur wurde Hannah Zenger erstmals auf die unterschiedlichen Gebrauchsweisen von Erde und Gesteinen aufmerksam. In ihrem sich daran anschließenden Studium der freien Kunst verband die Bildhauerin das technische Wissen, das sich in erster Linie um den Gebrauchswert drehte, mit persönlichen und symbolischen Fragestellungen. Erde ist nämlich weit mehr als die definierbaren Bestandteile, aus denen sie zusammengesetzt ist; sie hat auch eine wichtige spirituelle Bedeutung. Erde beschreibt den Grund, auf dem wir stehen, und bezeichnet den Planeten, den wir unsere Heimat nennen. Die schöpferische Kraft des Materials, das Leben hervorbringt und beherbergt, fasziniert die Menschen seit jeher. Gleichzeitig birgt es auch ein unheimliches Potenzial katastrophaler Naturereignisse.

Das neuerlich erwachte Bewusstsein über den Einfluss menschlichen Handels auf die Erde wird unter dem Begriff des Anthropozäns gefasst. Er beschreibt ein neues Zeitalter, in dem der Mensch und seine Technologien mit gewaltigen Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens und der Umwelt in die Natur eingreifen. Eindrücklich nutzt die Künstlerin Methoden und Theorien aus Geistes- und Naturwissenschaft, um uns die Erde ganz neu vor Augen zu führen. Hannah Zenger wirft die Frage auf, wie der Mensch Natur sichtbar macht und wie sie dadurch verstanden wird. Ihre Achtung vor der Erde wird durch ihren positiv zugewandten Ansatz deutlich, der die Bedrohung der Natur als globales gesellschaftspolitisches Thema frei von ökologischen Vorwürfen thematisiert.

Die Künstlerin bedient sich klassischer wissenschaftlicher Kategorien und Typisierungen. Ein von ihr angelegtes Archiv mit Gesteinen und Erden, die sie von Reisen mitbringt, ist die Grundlage ihrer künstlerischen Untersuchungen. Hannah Zengers Materialsammlung gleicht einer Verdichtung der Vielfalt irdischer Erd- und Gesteinsschichten. Archive und daraus resultierende Ordnungssysteme bilden die Grundlage wissenschaftlichen Vorgehens. Die zwölfteilige Wandinstallation »Sedimente« verbildlicht einen Ausschnitt ihres Archivs. Indem die Künstlerin die Erden über Glasscheiben schwemmt, entstehen Bilder, die ihrerseits wieder an Landschaften erinnern. Visuellen Entsprechungen karger Topografien gleich formt sich deren Gestalt durch die Kraft der Elemente. Auch hier findet sich eine Entsprechung zum wissenschaftlichen Vorgehen. Durch die Entnahme einer Probe wird ein Verständnis vom gesamten Untersuchungsgegenstand gewonnen.

Ihre Erfahrung aus dem Architekturstudium bildet die Grundlage für das Werk »Pisé«. Ein tiefgreifendes Interesse an Materialien, die zum Bauen benötigt werden, geht über das Wissen nach Stabilität und ihrer Verarbeitung hinaus. Die Frage, wo die Materialien herkommen und was mit ihnen geschieht, um zur tragenden Stütze moderner Architektur zu werden, veranlasste die Künstlerin zu weiteren Überlegungen. Gesteinsschichten erodieren über Millionen von Jahren, Wind und Wasser tragen Sand und Kiesel um die gesamte Welt, wo sie wiederum als Baustoffe Verwendung finden. Mit ihren Lehmarbeiten greift die Künstlerin auf ein Material zurück, das durch seine leichte Verarbeitung eine Jahrtausende alte Tradition in der Architektur hat und seit einigen Jahren als Baustoff, insbesondere aufgrund dessen ressourcenschonende Herstellung, wieder verstärkt Aufmerksamkeit erfährt. In immer neuen Schichten verdichtet die Künstlerin den Lehm zu Zylindern, die diesen Prozess ihrer Entstehung deutlich zeigen. Die Objekte sind Speicher, aus denen sich die Geschichte der Architektur, Baumringen gleichend, als auch die aufzubringende Energie für deren Herstellung ablesen lässt.

In der mehrteiligen Arbeit der »Transformationen« verbindet Hannah Zenger alchemistische mit wissenschaftlicher Forschung. In unterschiedlichen Landschaftstypen, von denen das Bundesamt für Umweltschutz 858 Einzellandschaften für Deutschland unterscheidet, sammelt die Künstlerin Biomassen. Die Proben werden dann von ihr klassifiziert, geordnet und weiteren Untersuchungen wie der Veraschung, der Lösung und dem Ascheschmelzverfahren unterzogen. Die Erforschung folgt jeweiligen wissenschaftlichen Methoden, die detaillierte Informationen zur Zusammensetzung der Probe vermitteln, wobei Grenzen zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Referenzen auf die Natur ausgelotet werden.

Die gesammelten Biomassen werden für immer feinere Analysen zunächst verbrannt und die Asche in Flüssigkeit gelöst. Diese Transformationen der organischen Proben in Materien finden in der Natur alltäglich statt und sind Teil eines natürlichen Kreislaufs von Werden und Vergehen. Den vom Menschen adaptierten Prozess, aus dem er Informationen gewinnt, überträgt Hannah Zenger in den Ausstellungsraum. Ihr Fokus liegt jedoch nicht auf der Erzeugung wissenschaftlich nutzbarer Daten, sondern vielmehr auf der Ästhetik der Verwandlung selbst. Im letzten Schritt, dem Ascheschmelzverfahren, werden kleinste Proben unter enormer Hitze verglast. Die mikroskopisch kleinen Keramikplättchen tragen auf den ersten Blick nur farbige Punkte.

Mithilfe makroskopischer Fotografien ermöglicht die Künstlerin jedoch eine genaue Betrachtung. Vor unserem Auge werden nicht geahnte Welten sichtbar, die jede für sich in ihrer Farbigkeit und Form einmalig sind. In ihrer Vielgestalt weisen sie weit über ihren Ursprung hinaus und regen uns zu Assoziationen und Träumen an. Sie werden zu Sinnbildern verdichteter Zeit, die im Glas erstarrt ein vorläufiges Ende ihrer Transformation finden.